Indien l September 2022
Anita* ist eine Musahar Anita stammt von den Musahars, einem der unterentwickeltsten Stämme in Indien. Sie gelten als „Rattenfresser“, werden diskriminiert und leben meist isoliert von der Bevöl-kerung. Sie sind zum grössten Teil im Staat Bihar angesiedelt, dem ärmsten Staat Indiens.
"Als ich in der Ziegelei ankam, merkte ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Kaum angekommen, wurde mir das Verlassen der Fabrik wie auch die Kommunikation nach aussen verboten. Ich geriet in Panik“, berichtet Anita. So liess mich meine Mutter in der Fabrik zurück – völlig isoliert und schutzlos.“
Von der eigenen Mutter in die Ziegelei geschickt Als Anita noch ein kleines Kind war, verstarb ihr Vater. Zurück blieb sie mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwis-tern. Als Tagelöhnerin verdiente die Mutter sporadisch etwas Geld, was aber kaum zum Überleben ihrer Familie ausreichte. Sie litten seit dem Tod von Anitas Vater regelmässig an Hunger und lebten völlig verwahrlost. „Etwas vom Wenigen, was mir jedoch immer Freude machte, war zur Schule zu gehen. Ich träumte davon, gut zu sein und später etwas zu studieren“. Doch ihre Mutter setzte sie immer wieder unter Druck, sie solle arbeiten gehen, die Schule sei sowieso nicht wichtig. So wurde Anita mit 13 Jahren von ihrer Mutter zu einer Ziegelei, hunderte von Kilo-meter entfernt, gebracht, vermittelt durch eine „nette“ Bekannte der Familie.
Doppelt ausgebeutet Anita musste durchschnittlich 15 Stunden pro Tag schuften. Tagein, tagaus war sie für das Putzen und Schleppen der Ziegelsteine zuständig. Durch die tägliche Überlastung litt sie an schrecklichen Rückenschmerzen, ihre Hände und Füsse waren ganz wund. „Doch das Schlim-mste waren die regelmässigen Vergewaltigungen des Fabrikchefs. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit kam er und holte sich, was er gerade wollte. Es war einfach nur widerlich. Mein ganzer Körper schmerzte, innerlich und äusserlich. Ich fühlte mich von allen verlassen – ich dachte manchmal, mein Leben sei aus. Ich wollte nur noch sterben“, beschreibt Anita ihr Elend. Dieses Martyrium ging acht Monate lang. Nie hätte sie erwartet, dass sie je wieder aus dieser Misere befreit würde.
Dank Präventionsarbeit befreit Auch wenn die Mutter von Anita diejenige gewesen war, die ihre Tochter zur Arbeit in der Ziegelei gezwungen hatte, machte sie sich mit der Zeit doch immer grössere Sorgen. Sowohl sie wie auch der Besitzer der Ziegelei waren seit dem ersten Tag nicht mehr erreichbar. Der Gedanke, ihrer Tochter könnte doch etwas zugestossen sein, liess ihre Verzweiflung wachsen. Diese Sorge teilte sie mit einem ihrer Bekannten, Manoi. Manoi hatte wenige Monate zuvor an einem Präventionsvortrag über Menschenhandel teilgenommen – durchgeführt von der Partnerorganisation von SOLVA in Indien. Dank dieser Präventionsarbeit wusste er, an wen man sich beim Verdacht auf Menschenhandel melden konnte. So kontaktierten Manoi und die Mutter von Anita das Team vor Ort. Die Polizei, die mit dem Team vor Ort zusammenar-beitet, wurde eingeschaltet, Anita befreit und der Ziegeleibesitzer angeklagt. Das Verfahren ist hängig.
Eine zweite Chance
Anita hat eine schlimme Zeit erlebt. Bei den psychologischen Gesprächen erzählte sie von ihren täglichen Ängsten, Schmerzen, ihrer Verzweiflung und ihren Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Keiner weiss, wie hoch die Dunkelziffer der Opfer von Menschenhandel ist, die sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Aber was sicher ist, sie ist zu hoch!!! Denn jedes einzelne ist eines zu viel. Neeru lebt jetzt bei ihrer Familie. Regelmässig besucht sie nun ein Nähatelier, wo sie eine von Solva unterstützte Aus-bildung absolviert. ''Ich bin dem Team so dankbar, dass es mir ein neues Leben geschenkt hat. Während meines Elends wurde diese Organisation zum Lebensretter für mich. Ich bin so dankbar, dass ich die Beratung und Motivation bekommen habe, die ich zu diesem Zeitpunkt brauchte. Und dass ich durch die Nähausbildung neue Zukunftsperspektiven erhalten habe. Ohne den Einsatz von allen würde ich heute wohl nicht mehr leben. Herzlichen Dank dem ganzen Team und allen, die meine Rettung ermöglicht haben“
*Aus Sicherheitsgründen werden Namen geändert, Partnerorganisation und Ortschaft nicht erwähnt
Seit 1950 ist, laut der indischen Verfassung, das Kastensystem nicht mehr gültig. Doch die Gesellschaft funktioniert bis heute sehr stark nach diesem System. Dabei leiden die über 250 Millionen Zugehörigen der untersten Kasten, der sogenannten Dalit (auch Unberührbare genannt), am meisten darunter. Die Musahars, übersetzt die „Rattenesser“, sind die Letzten in der indischen Gesellschaftshierarchie. Sie gelten als so unrein, dass selbst die anderen Dalit sie diskriminieren. Der grösste Teil der Musahars lebt im Staat Bihar, dem ärmsten Staat Indiens. Armut, Verwahrlosung und fehlende Bildung sind der grösste Nährboden für Menschenhandel und Ausbeutung. Daher stammen prozentual die meisten der über 18.5 Millionen Betroffenen in Indien aus dem Staat Bihar. Die wiederkehrenden Überflutungen und die Covid-19-Pandemie haben die Lage zusätzlich verschlimmert.
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